Dienstag, August 07, 2012

Runter vom Thron, auf in die Welt!

In der aktuellen Ausgabe der Ernährungs-Umschau findet sich der von Angelika Ploeger und mir verfasste Artikel Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen. In diesem Artikel fordern wir in gewisser Weise einen Paradigmenwechseln in der Ernährungswissenschaft. Der inzwischen klassisch gewordene naturwissenschaftlich-medizinische Experte, der mit der Autorität seiner Profession der Gesellschaft und den Klienten (den "Essenden") quasi "von oben herab" (oder "von hinter dem Schreibtisch") sagt, was zu essen ist und was nicht, hat sich, so eine der Kernthesen des Artikels, überlebt.

Die Erkenntnis - und die wissenschaftliche Anerkennung! - von Hyperkomplexität in der Ernährungskultur (als der "Art und Weise wie sich Leute in einer Gesellschaft ernähren und wie andere sie dabei beobachten") führt dazu, dass man im Perspektiven- und Aussagenpluralismus immer schwerer zwischen "wahren" und "falschen" Beschreibungen unterscheiden kann (dies gelingt seriös nur noch bei sehr reduktionischen Element-Relation-Konstellationen). Denn alle Beobachtungen und Beschreibungen sind gekennzeichnet durch (1) die Positionsabhängigkeit des Beobachters und (2) durch die notwendige Reduktion von Komplexität. Der erste Punkt führt dazu, dass Erkenntnisse und Beschreibungen zwischen bspw. einem Natur- und einem Sozialwissenschaftler, einem Mediziner und einem Physiker, einem Soziologen und einem Semiotiker, zwischen Experte und Laie, Berater und Klient etc. immer schon deshalb unterschiedlich sind, weil andere Blickwinkel, andere Kategorien und andere Zielvorstellungen zum Zuge kommen. Der zweite Punkt schließt endlich mit der Illusion von "Ganzheitlichkeit" ab. Die Idee der "Ganzheitlichkeit" suggeriert, man könne, wenn man "nur nicht reduktionistisch" ist, "quasi alles" in den Blick bekommen. So kurz wie die reduktionistische Wissenschaft, die sich ausschließlich auf isolierte Elemente konzentriert, auch greift, so unrealistisch ist die Idee, ein (Ab-)Bild vom Ganzen zu erstellen. Zunächst müsste das Bild eine Landkarte im Maßstab 1:1 sein, dann würde der Faktor Zeit das Erstellen der Landkarte zu einem unendlichen Prozess machen, schließlich müsste man akzeptieren, dass die Landkarte nie das Territorium ist und man auch nur eine von zahllos nebeneinander existierenden Landkarten entwirft. Und wer beobachtet den Beobachter beim beobachten?

So kann Ernährungskultur (nun verstanden als "Wissenschaft vom Essen und Trinken") in der hochmodernen Gesellschaft vor allem dadurch glänzen, dass sie Alternativen aufzeigt, verschiedene Positionen mit einander in Verbindung bringt, Maßstäbe zur Gewischtung von Faktenwissen bereitstellt, ohne diese zu verabsolutieren und eine Form der produktiven Unruhe zu stiften, wo Akteure Situationen als festgefahren erleben. Gute Experten wissen zudem im Gegensatz zu Laien - die (implizit) oft mehr und genauer Bescheid wissen - gerade auch um das "Nicht-Wissen" jedes Wissens. Sie bedenken öfter die Kontingenzspielräume, oder "ahnen es schneller", wann man mit dem traditionellen, konservativen Ernährungslatein am Ende ist und sich auf den Weg machen muss, neue Wege zu beschreiten.
 

Kofahl, Daniel/ Ploeger, Angelika (2012):
Deutsche Ernährungskultur - Trends und Veränderungen.
Perspektiven einer modernen Kulturwissenschaft.
 In: Ernährungs-Umschau, 7/12. S. 386-391.