Montag, November 09, 2009

Der Tod zwischen Natürlichkeit und Artifizialität

Auf der Suche nach Analysen zu "Natürlichkeit" und "Künstlichkeit" bin ich auf den Text - paradoxe Einheit! - "Artifizielle Natürlichkeit" von Matthias Hoffmann gestoßen.

Thematisch dreht der Text sich um Hospize und den an diesen Orten sich vollziehenden Tod. Der Tod interessiert wohl alle Hahn-Schüler (Hoffmann, ebenso wie mich) besonders, aber zur Zeit steht für mich die Differenz natürlich/künstlich und die Art der theoretischen Analyse im Vordergrund. Da ist Hoffmann insofern interessant, als er nämlich aufdeckt wie sich die Forderung, die Hospizsituation "so natürlich wie möglich" zu gestalten, in ihr genaues Gegenteil verkehrt, und gar nicht anders kann "wie hochgradig artifiziell" (552) zu werden.

"Natürlich", so wird der familiäre Sterbeprozess attributiert, der orthogonal zum Sterbeprozess im Hospiz steht. Während in der Familie jeder Mensch, und hier spezielle jeder Sterbende, in ein enges und diffuses Netz wechselseitig verknüpfter Relevanzen inkludiert ist, interessiert im Hospiz nur seine Krankheit, seine Funktion als Patient. Daran ändert auch die Forderung nichts, den Patienten in seiner (diffusen) Ganzheit zu berücksichtigen. Denn im Gegensatz zur Familie, wo alles relevante eines Gruppenmitglieds auch für alle anderen relevant ist, ist im "neuen" Hospiz nur alles was für den Patienten relevant ist relevant! "Die symmetrische Relevanzstruktur der Familie verschiebt sich hier zu einer vollständigen Asymmetrie." (552).

Theoretisch greift Hoffman auf Goffmann's Theorie der Differenz von Vorder- und Hinterbühne zurück. Er beschreibt, wie der "natürliche" Raum auf der Hinterbühne initiiert und auf der Vorderbühne inszeniert wird - Natürlichkeit als "kunstfertige Herstellung" (552). Zu sehr bedarf der funktionierende Pflegealltag, gerade der hochgradig Patientenbedürfnisse focussierende, strukturelle Regularien auf verschiedenen Ebenen (bspw. der Verwaltung).

So kommt er im Fazit, zu der gar nicht abwertend gemeinten Feststellung: "Ein natürliches, ohne weitere Voraussetzungen und Randbedingungen praktizierters 'Da-Sein' wird aus guten Gründen in der Hospizarbeit nirgends praktiziert. 'Natürlichkeit' ist der angestrebte Modus im Verhältnis zu den Kranken und kann doch immer nur eine artifizielle Natürlichkeit sein." (569).

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