Mittwoch, März 28, 2012

Systemtheoretische Kinder

"Das Kind als Medium der Erziehung" von Niklas Luhmann ist nur ein ganz dünnes Büchlein; aber es hat es in sich und ist voller spitzfindiger Anspielungen - schon lange nicht mehr musste ich so oft bei wissenschaftlicher Lektüre (zustimmend) schmunzeln. 

Es ist fraglos oft auch etwas bitter, schließlich ist die Entzauberung humanistischer Pädagogenromantik immer ein wenig eine Landkarte durch Absurdistan. Aber eine raffinierte Abkühlung muss fraglos kein theoretisches Drama daraus machen. Stattdessen gewinnt man Einsichten in Uneinsichtigkeit und nimmt, sofern vorhanden, die Kinder-(Nicht)-Erziehung selbst etwas leichter. Und wenn dies auf persönlicher Ebene nicht möglich ist, dann doch wenigstens auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, denn dort ist klar: 

"Es wachsen immer neue Kinder nach [und außerdem wird] durch Organisation sichergestellt, daß sie eingeschult werden und pünktlich zum Unterricht erscheinen." (69)

Das relativiert sogar, dass Pädagogen das Medium in dem sie kommunizieren ("das Kind") "tendenziell teleologisch" denken und tatsächlich im individuellen Einzelfall "die Bemühungen um Erziehung irgendwann einmal ihr Ende [finden]" (69).

Dass die Erziehung des Kindes - ob nun traditionell eher auf "Dressur" (60) oder modern auf "frühe Selbstständigkeit im Umgang mit Lektüre" (60) [für die nächste Gesellschaft {Baecker} könnte man vielleicht sagen "im Umgang mit dem Computer"] abzielend - am liebsten weiterhin sozial zuverlässige Trivialmaschinen konstruieren will (50), sollte aber vielleicht zusätzlich zu denken geben, ob hier nicht ein um-denken möglich ist. Eine Reihe trivialer contrafaktischer Stabilisierungen in der Märchenwelt der Erwachsenen könnten wegfallen und mehr Platz für nicht-triviale Träumereien schaffen.



Luhmann, N. (2006): Das Kind als Medium der Erziehung. Frankfurt a. M.

6 Kommentare:

kusanowsky hat gesagt…

Das Erziehungssystem verhält sich gleichgültig gegenüber den Wissensbeständen, die es verwendet. Alles, was durch das Wissenschaftssystem eingebracht wird, wird nach Maßgabe des Codes "gewusst/nicht gewusst" behandelt, egal um welches Wissen es sich handelt. Das gilt auch, sobald in der Wissenschaft so etwas kurioses wie Systemtheorie ausgearbeitet wird, die diese Differenz vorschlägt. Wird es gewusst, dann wird es gewusst und kann nach "richtig und falsch" beobachtet und sanktioniert werden, auch dann, wenn die Systemtheorie selbst weder etwas Richtiges noch etwas Falsches enthält. Zahllose Schimären und Irrtümer haben im Laufe der Geschichte das Funktionieren des Erziehungssystems in keiner Weise zu zerstören vermocht. Siehe dazu auch: Becker, Frank und Elke Reinhardt-Becker: Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2001, S. 124ff.

Daniel Kofahl hat gesagt…

Zustimmung. Die Robustheit des Erziehungssystems ist augenscheinlich schon sehr oft verifiziert worden. Interessanterweise, wie Du schreibst, durch "Gleichgültigkeit" (eines sich selbst wohl als "sehr aufgeschlossen" verstehenden Systems) und durch die Fokussierung auf den Wert "gewusst" (geradezu übertrieben in multiple choice Klausuren anschaulich betont).

Was würde geschehen, wenn es sich auf den sokratischen Wert "nicht-(mehr)-gewusst" (Kinder - und Pubertierende im speziellen - wissen ja oft noch "alles") umstellen würde? Oder auf einen der Kybernetik 2. Ordnung ("ich denke, ich weiß, dass ich weiß und weiß deshalb fast nichts" [wäre das die korrekte K2O-Formulierung?])?

kusanowsky hat gesagt…

Zunächst gilt: "Paradoxien [...] sind 'als basale Bestandteile all jener Systeme zu akzeptieren, die ein Verhältnis zu sich selbst unterhalten. Das gilt für alle rückgekoppelten Systeme, das gilt vor allem für menschliches Bewußtsein und für soziale Kommunikation'" Siehe dazu: Kraft, Volker: Operative Triangulierung und didaktische Emergenz - Zur Zeigestruktur der Erziehung. In: Aderhold, J., Kranz, O. (Hg.): Intention und Funktion - Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme, Wiesbaden 2007, S. 137 - 158, hier S. 156. Wenn nun ein solches System eine Beobachtung in eigenen Rückkopplungsprozessen realisiert, dann beobachtet es auch immer etwas an sich selbst, aber es beobachtet es auch nicht als etwas-an-sich. So kann man von der Paradoxie sprechen, dass ein beobachtendes System etwas beobachtet, es gleichzeitig aber auch nicht beobachtet, weil es letztlich seine Beobachtungen nur aus Selbstbeobachtungen gewinnen kann. Für eine Erziehungssystem dürfte sich in dieser Hinsicht nur die Möglichkeit ergeben, die Indifferenz gegen solche Überlegungen zu steigern, was auch heißen könnte, die Kompelxität seiner Verknüpfungsmöglichkeiten in immer größere Intransparenz zu überführen. Durchschaubarkeit ist jedenfalls nicht zu erwarten, weil alle Erziehung notwendig mit Sanktionsrechten verbunden ist, deren Wirksamkeit nicht ohne Anwesenheit von Körpern vorstellbar ist.

Daniel Kofahl hat gesagt…

Danke für den Hinweis auf das Buch "Intention und Funktion". Das ist ja eine kleine Schatzkiste!

...

Ansonsten stimme ich Dir zu, frage mich nur beim letzten Punkt, ob der Körper noch immer zwingend nötig ist. Kann man sich nicht auch Fernschuluntericht (wie ein Fernstudium) vorstellen, der immer leichter zu realisieren ist, seit es Computer gibt (eigentlich sind Hausaufgaben schon eine analoge Form davon) und sanktioniert wird nicht über den Körper, sondern über Selektion (wer nicht spurt [auch wer nicht kritisch ist, wo er kritisch zu sein hat) wird eben bei der Karriere gebremst). Durchschaubarkeit wäre fraglos auch da nicht zu erwarten. Aber dass Erziehungssystem könnte seine noch anwachsende Undurchschaubarkeit als solche bemerken und daraufhin seine Organisation überarbeiten (die es als Ersatz für die prägnante fehlende binäre Codierung einsetzt).

kusanowsky hat gesagt…

"ob der Körper noch immer zwingend nötig ist" - das ist ein guter und wichtiger Punkt. In meinem Blog habe habe ich darüber schon viel geschrieben. Im Grund handelt mein Blog von nichts anderem. Vielleicht haben wir ja noch Gelegenheit darauf zurück zu kommen. Ganz passend dazu, in einem anderesn Zusammenhang:
"Und ich stelle mir vor, man hätte es mit einem intelligenten Gegenüber zu tun, der ohne Körper operiert, also so etwas wie ein Turing-Maschine. Man könnte auch sagen: der Körper wird als Gefahr immer bedeutender, je weniger er für ein Interaktionsgeschehen als Zurechnungsinstanz für Risiken in Frage kommt."
http://neonleuchte.blogspot.de/2012/03/dont-read-troll-read-them-all-uber.html?showComment=1333023765258#c4992051576918318319

Daniel Kofahl hat gesagt…

:) solange er noch da ist, sollten wir auf den Körper noch mal zurückkommen... "da sein" in (s)einem traditionellen Verständnis.